Als ich begann meine eigene Kleidung zu nähen, ahnte ich noch nicht, wohin mich die Reise führen würde. Die Idee, einfach alles zu nähen, wovon ich träume, war zwar verführerisch, schien aber zumindest am Anfang noch unrealistisch. Ich weiß noch, wie ich diejenigen bewunderte, die sich vornahmen, eine bestimmte Zeit lang keine Kleidung mehr zu kaufen und stellte mir vor, wie lange das bei mir dauern würde, bis ich so weit wäre. Spoiler: das ging schneller, als ich dachte, denn das, was ich durch das Nähen erreichte war so großartig und wertvoll, dass ich gar nicht anders konnte, als mir Nähzeit in meinem Alltag zu erkämpfen. 

 

Viele Plus-Size-Schnittmuster machten mich unglücklich

Das ich zunächst an Nähprojekten länger beschäftigt war als heute, war nicht das Problem. Am Anfang meiner Erwachsenenkleidungnähkarriere hatte ich das gleiche Problem wie bei der Suche nach Kaufkleidung: ich fand kaum schöne Schnittmuster, die bis zu meiner Größe gingen und vieles, was ich nähte, sah ziemlich unförmig aus.

Es dauerte eine Weile, bis ich nach und nach lernte, Schnittmuster auf meine Figur anzupassen. Ansporn war damals für mich gerade Schnitte, die es nicht in meiner Größe gab, für mich passend zu machen. Das hatte den Vorteil, dass ich von vornherein unförmige Kleidungsstücke für mich ausschloß und gezwungen war, meinen Körper genau anzuschauen, um es an allen Ecken – oder genauer gesagt Rundungen – passend zu machen.

Zu diesem Zeitpunkt verstand ich aber immer noch nicht, was für großartige Erfahrungen ich damals machte. Ich hangelte mich einfach von einem Kleidungsstück zum nächsten und freute mich, dass es mir mehr und mehr gelang, tragbare Kleidungsstücke zu produzieren.

 

Huch, ich bin nicht mehr dick!

Bis zum 4. Februar 2013. An diesem Tag schrieb ich – damals noch in meinem alten Blog, den denkwürdigen Blogbeitrag “Nicht mehr dick!”. Ich zitiere:

Meine schlichte Antwort “ich bin nicht mehr dick” – ist natürlich alles andere als einfach. Nach objektiven Kriterien (gibt es Objektivität?) gelte ich mit meinen Maßen als “große Größe”, als dicke Frau, als außerhalb der Norm. Doch für mich sind diese Kriterien nicht maßgeblich.

 

“Dick sein” als Problem, bedeutete für mich eine lange Zeit:

  • keinen Spaß am Shoppen zu haben, weil es in den interessanten Läden sowieso nichts für mich gab.
  • Kleidung zu tragen, die ich eben bekam, die mir aber in den meisten Fällen nur mäßig gefiel.
  • Kleidung zu tragen, die angeblich “kaschiert”, mir aber eher ein Litfasssäulen-Gefühl gab.
  • Kleidung zu tragen, die mir zwar gefiel, aber irgendwo zwickte und zwackte, an mehreren Stellen zu klein war oder nicht meinen Qualitätsmaßstäben entsprach.
Lange Zeit dachte ich, dass ICH das Problem wäre. Für MICH gibt es einfach keine schöne, gute, vorteilhafte Kleidung. Mit meinem nicht der Norm entsprechenden Körper – selbst schuld – gibt es einfach nicht Gescheites. Lange Zeit dachte ich, die Lösung des Problems wäre Abnehmen, das wird ja auch aller Orten gepredigt, bis ich den Irrtum und die Gefahr dahinter erkannte.
(…) Mit zunehmender Näh-Erfahrung, dem Ausprobieren von verschiedenen Stil-Optionen gelang ich zu der Erkenntnis: Nicht ich bin das Problem, sondern das, was es in den Läden zu kaufen gibt.
Daraus folgerte ich: wenn dick sein = doofe Kaufkleidung das Problem ist, —> ich nähen kann, was ich will,  —> dann existiert das Problem “dick sein” nicht mehr –> folglich bin ich nicht mehr dick.
Zack! Auf einmal verstand ich, was schleichend passiert war, ohne, dass ich es bemerkt hatte. Ein Problem, das mich jahrelang begleitet und mein Leben maßgeblich beeinflußt hatte, war schlichtweg nicht mehr existent. Ich hatte etwas zum Anziehen, was mir gefiel und eine ganz neue Leichtigkeit in meinem Leben!

 

Dick-sein an sich ist kein Problem

Dieser Gedanke, dieses Aha-Erlebniss war so stark, dass es mich bis heute begleitet und von Jahr zu Jahr für mich selbstverständlicher wurde. Je mehr ich schöne Kleidung für mich nähte, in der ich mich wohl fühlte, umso selbstverständlicher wurde es für mich, überall hinzugehen, mich alles zu trauen und mich auch überall ganz normal und zugehörig zu fühlen. Ich hatte mir Teilhabe ernäht!

 

Teilhabe heißt: du darfst überall mitspielen

Teilhabe bedeutet, dass ich mich als normales Mitglied der Gesellschaft fühlte, das einfach alles machen kann, das an allen gesellschaftlichen Situationen und Anlässen ganz normal mitspielen kann. Es dauerte zwar noch etwas, bis ich zum Beispiel für mich definiert hatte, wie “offizielle Kleidung” für mich aussehen soll und bis ich dazu in der Lage war, z.B. ein Jackett zu nähen. Aber je besser meine Näh- und Schnittanpassungsfertigkeiten wurden, umso vielfältiger wurden meine selbstgenähten Kleidungsstücke und umso “normaler” fühlte ich mich.

 

Was hilft konkret?

Ja, es ist gar nicht so leicht, gute Schnittmuster zu finden, die schon für eine Plus-Size-Figur (oder zum Beispiel auch für verschiedene Cup-Größen) gemacht sind. Googlen hilft, aber es gibt noch Besseres: Schau zum Beispiel beim Me Made Mittwoch gezielt nach Frauen, die eine ähnliche Figur haben. Zu wenig dicke Frauen beim MM und englisch einigermaßen verstehen geht auch? Dann schau unbedingt beim curvy sewing collective! Dort findest du weit mehr als Inspiration: die Frauen des curvy sewing collective haben schon unzählige Schnittmuster besprochen und geben tolle Tipps, wie sie die Sachen nähten und anpassten.

 

Wusstest du, dass auch unsere Schnittmuster, hier im Schnittmusterkiosk, für Plus Size Ladies funktionieren? Wir haben ein Größenspektrum von kleiner bis sehr großer Kleidergröße und die Größen sind nicht einfach nur hochgradiert, sondern für die einzelnen Größengruppen bearbeitet. Es ist nur eine kleine Kollektion und zugegebenermaßen sind die meisten Schnittmuster auch nicht gerade für Anfängerinnen, aber vielleicht ist etwas für dich dabei.

 

Doch auch bei guten Schnittmustern, die auch in großen Größen funktionieren, kommst du um das Kontrollieren und ggf. Anpassen eines Schnittmusters nicht drumherum. Doch glaube mir, es ist keine Raketenwissenschaft. Du kannst es lernen!

 

Lasst uns gemeinsam die Welt verändern!

Als ich das alles erlebt und verstanden hatte, konnte ich gar nicht mehr anders, als mein Hobby zum Beruf zu machen. Über diese Erkenntnisse zu bloggen war fein, aber ich wollte mehr.

Wenn es “nur” ein paar Kenntnisse in Schnittanpassung und gute Schnittmuster braucht, um dicke Frauen “in die Welt zu holen”, damit sie sich trauen, sich zu zeigen, den Mund aufzumachen und sich mit ihren Kompetenzen einzubringen, dann ist das doch quasi meine Aufgabe, genau dieses Wissen in die Welt zu bringen!

Als ich verstand, wie sehr sich unsere Welt ändern würde, wenn plötzlich alle Frauen mit ihren Körpern zufrieden wären, beschloss ich meinen Teil dazu zu leisten. Es ist einfach großartig, wenn mehr und mehr Frauen endlich damit beginnen, das Hamsterrad der Selbstoptimierung zu verlassen und sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren.

 

Mehr Beiträge zum Thema findest du unter dem Hashtag #dascurvycraftelnplussizeprojekt: