Das Schnittmuster auf Anhieb perfekt passen ist vermutlich ein unerfüllbarer Wunschtraum. Es sei denn, du nähst extrem Oversize, du erlaubst dem Jersey das Kommando zu übernehmen und fügst dich, wohin er rutscht oder dir ist sowieso alles egal. In allen andere Fällen, mußt du irgendwie ein fertiges Schnittmuster mit deinem individuellen Körper zusammenbringen. 

Wann ist der richtige Zeitpunkt?

Das macht zusätzliche Arbeit und hält uns von schnellen Erfolgserlebnissen ab. Aber erstens ist schneller Erfolg nicht immer das entscheindende Kriterium für Zufriedenheit mit Nähergebenissen und zweitens hat wirklich gute genähte Kleidung auch etwas mit Nachhaltigkeit zu tun. Letztlich ist es eine Frage des Zeitpunktes, wann ich diese zusätzliche Energie aufbringe, mich nicht mit einem vorgefertigten Ding zufrieden zu geben, sondern diese Optimierungszeit investiere. Mache ich das vor dem Nähen oder danach?

Dass dieser zusätzliche Zeitaufwand lästig ist, steht außer Frage. Natürlich möchte ich ein Kleidungsstück, dass ich gerade nähe, so schnell wie möglich anziehen. Ich habe ein Schnittmuster, eine Traumvorstellung, ich habe einen wunderschönen Stoff – da ist es doch klar, dass ich ganz ungeduldig bin, mein Ergebnis in den Händen zu halten, weil ich im Vorfeld hundertprozentig sicher bin, dass es mein Leben verbessern wird.

Ich habe mich sehr früh in meiner Nähkarriere dazu entschieden, eher das Schnittmuster als das fertige Kleidungsstück zu ändern, denn mir ging es stets um wiederholbare Erfolgserlebnisse. Es machte mich wahnsinnig, dass meine ersten Nählehrerinnen zwar wunderbar abstecken konnten, was mir ermöglichte ein gut passendes Kleidungsstück zu nähen, aber sie weigerten sich stets, diese Änderungen auf das Schnittmuster zu übertragen. Ich habe einige Nählehrerinnen verschlissen, denn genau das war mein Ziel. Ich wollte wiederholbare Erfolgserlebnisse, und das individualisierte Schnittmuster, sollte der Schlüssel zu meinem Erfolg sein.

Nachdem ich in den Nähkursen nicht das lernen konnte, was ich wirklich wollte, lernte ich Schnittkonstruktion und das brachte mich dem, was ich wissen wollte, einen großen Schritt näher. Da ich aber keine Designerin bin und das auch nie werden wollte, wandte ich mein Konstruktionswissen auf fertige Schnittmuster an, d.h. es wurde eine Art Arbeitsteilung: der/die DesignerIn dachte sich Silhouette, Details (wie Kragen, Abnäher, Taschen etc.) aus und ich veränderte die grundlegenden Linien hin zu einem Maßschnitt. Das ist auch das, was ich unterrichte: verliebe dich in ein Schnittmuster und mache es dann zu einem Maßschnittmuster.

Es ist wie immer im Leben: sowohl als auch!

Womit ich allerdings als Näh- und Schnittmusterveränderungsanfängerin nicht gerechnet hatte ist die Erfahrung: jeder Stoff verhält sich anders. Obwohl ich mich mittlerweile gut mit Schnittmustern und mit Stoff auskenne und schon gut voraussagen kann, wie sich ein Stoff verhält, bleibt doch immer noch ein Rest Unsicherheit, wie gut letztlich der ausgewählte Stoff und das Schnittmuster sich zu einem Kleidungsstück am echten Menschen mit allen möglichen Bewegungen verhalten wird. Wie sehr dehnt es sich, wie fällt der Stoff, wie verhält sich das genähte Kleidungsstück mit der darunter gezogenen Unterwäsche oder anderen Kleidungsstücken darunter, darüber, daneben.

Diese Restunsicherheit führt dazu, dass ich nicht nur Zeit für Schnittmusteranpassungen einkalkuliere, sondern dass auch finale Anpassungen zum Nähen von Kleidungsstücken mit guter Passform dazu gehören. So, wie ich bei einem Tier nicht immer voraussagen kann, wie es sich verhält, gewähre ich auch dem Stoff ein gewisses Maß an kapriziösem Verhalten. Ich zerschneide ihn, füge ihn neu zusammen und dann müssen wir erst einmal sehen, wie wir zusammen klar kommen. In vielen Fällen braucht es noch weitere Anweisungen, wie der Stoff sich zu verhalten hat. Das nenne ich Finetuning.

Faustregel: vorher Denken, hinterher Finetuning

Deswegen habe ich mir angewöhnt, alle Weiten- und Längenzugaben im Vorfeld zu machen, aber den Feinschliff der Silhouette (also das enger machen an bestimmten Stellen und das Kürzen), am auf links angezogenen Kleidungsstück abzustecken bzw. die Saumlänge erst als allerletztes zu bestimmen.

Dieses Abstecken auf links kann ich auch alleine vor dem Spiegel machen oder in dem ich mich zwischenzeitlich fotografiere, denn es handelt sich tatsächlich nur noch um ein Finetuning, den letzten Schliff. Wenn ich in Nähblogs von “langen Anpassungsorgien” lese, dann vermute ich stark, dass eben im Vorfeld nichts am Schnittmuster geändert wurde. Wenn erst im Nachhinein angepasst wird, dann führt oft eine Anpassung zum nächsten Problem und so weiter und so fort. Das dauert natürlich und ist nichts anderes als Frickelei. Wenn ich aber im Vorfeld ein Schnittmuster ändere und dabei strategisch die Zusammenhänge bedenke, dann sind meine Anpassungen nur noch ganz kleine Feinheiten. Das Kleidungstück passt schon, aber durch etwas Wegnehmen von Stoff hier oder da, wird die Sihouette verfeinert, ohne grundsätzlich etwas zu ändern und damit die Bewegungsfreiheit einzuschrenken. Es ist ein Nachmalen der Kontur, das Sahnehäubchen quasi. Nicht mehr und nicht weniger.

Prozess optimiert oder betriebsblind?

Ich finde, es lohnt, vor dem eigentlichen Zuschnitt Zeit und Gehirnschmalz in Schnittmusteränderungen zu investieren und ich habe festgestellt, dass jede dieser Änderungen meine Projekte schon um Klassen besser macht, als wenn ich gar nicht unternommen hätte. Wenn ich ein Schnittmuster im Vorfeld kontrolliere und dahingehend korrigiere, genau dort Weite zu haben, wo ich Weite brauche, riskiere ich nicht mehr, dass es anschließend zu eng wird. Wenn ich nur eben-mal-schnell die Nahtzugabe verbreitere, habe ich ein “Sack-Risiko”, denn diese Strategie ist eher ein Glücksspiel mit Nebenwirkungen, als ein bewußter Vorgang.

Aber man selbst wird ja schnell auch ein wenig betriebsblind. Ich mache “meine üblichen Änderungen” und gehe eigentlich immer gleich vor. Was ist, wenn, es auch noch andere Möglichkeiten gibt, besser passende Kleidung zu produzieren? Frau lernt nie aus, deswegen habe ich mir vorgenommen, immer mal ins Gespräch mit anderen Expertinnen zu kommen. Heute Abend spreche ich mit Elke von ellepuls.com. Elke ist Expertin für Längenänderungen und ändert Schnittmuster im Vorfeld; sie hat auf ihrer Website einige Tutorials dazu. Ich bin gespannt, welche ähnlichen Vorgehensweisen aber auch Unterschiede, wir im Gespräch entdecken.


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